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Jochen Kraidler - Mord im Hainich

JOCHEN KRAIDLER

Mord im Hainich

Philipp Porter
JOCHEN KRAIDLER - Mord im Hainich

Kriminalroman


Jochen Kraidler - Mord im Hainich

Die Scheibenwischer knarrten über die Windschutzscheibe. Jochen Kraidler schaute dem linken Wischerblatt zornig hinterher. Bei nächster Gelegenheit würde er die Blätter austauschen müssen, auch wenn nur einer Ärger machte. Nicht nur das ewige Knarren nervte ihn, auch dass er bei Regen nicht mehr viel sah. Um Haaresbreite hätte er die Einfahrt in den schmalen Waldweg verpasst, der mit einem Pylon gekennzeichnet war.
Langsam ließ Kraidler den Wagen über den schmalen Weg in den Wald hineinrollen. Nach fast fünfhundert Metern erreichte er das Absperrband der Polizei. Suchend schaute er sich durch die verschwommenen Scheiben seines Wagens um, konnte aber niemanden sehen. Er musste wohl zu Fuß noch einige Meter weiter in den Wald hinein. Beim Aussteigen aus dem Wagen schlug ihm kalter Regen entgegen und er zog instinktiv den Kragen seiner Jacke dichter an den Hals heran. Ohne zu wissen, ob er den richtigen Weg nahm, lief er geradeaus. Und schon nach der nächsten Biegung des schmalen Weges sah er seine Kollegen, die sich dicht an einen runden Turm drängten. Sie standen unter dessen sich emporwindender Treppe, um sich vor dem anhaltenden Regen ein wenig zu schützen.
Weit und breit entdeckte er kein Zelt zum Schutz etwaiger Spuren. Vermutlich lag der Tatort noch weiter im Wald verborgen. Kraidler schlüpfte unter einem weiteren Absperrband hindurch und lief mit schnellen, kurzen Schritten zu dem Turm.
„Tagchen“, rief er schon von Weitem und beeilte sich unter die schützende Treppe zu kommen, da der Regen plötzlich an Heftigkeit zunahm. Ein kollegiales Nicken aller Personen war die Antwort und jeder der Kollegen schien den gleichen Gedanken im Kopf zu haben: „Mal schauen, wie sich der Herr vom LKA aus Erfurt macht!“
Die ihm per Mail vorgestellte und in diesem Fall zugeteilte Kollegin Simone Buchner-Puck winkte ihm zu und er bog kurz vor Erreichen der Gruppe links ab, um mit einigen Sprüngen über etwas größere Pfützen zu ihr zu gelangen. Die Mail hatte einen Bildanhang von ihr gehabt, den sich sein Dienstgruppenleiter hätte sparen können. Da Frau Buchner-Puck eine junge, schlanke Person mit feuerrotem Bubikopf war, die noch dazu in einer schwarzen Glattlederhose mit ebenso schwarzer Lederjacke steckte, konnte man sie kaum übersehen.
„Nicht gerade schön heute“, sagte Buchner-Puck und hielt Kraidler ein Handtuch entgegen.
„Danke“, sagte Kraidler und trocknete sich das Gesicht damit ab. „Ich sehe den Tatort nicht. Kein Zelt. Liegt er weiter hinten im Wald? Bei dem Wetter werden wir es schwer haben mit der Spurensicherung. Können Sie mir sagen, weshalb genau ich hier bin? Wer hat mich angefordert? Steht schon fest, wer der Tote ist?“
Simone Buchner-Puck bedachte ihn mit einem fragenden Blick.
„Es gibt keine verwertbaren Spuren am Opfer. Finger- und Schuhabdrücke enorm viele. Die werden aber wohl nichts bringen, da dies hier ein Ausflugsziel ist. Sie werden trotzdem gesichert. Todeszeitpunkt gestern so gegen 22:00 Uhr. Fundort ist Ablageort, meint Hermann und daher …“
„Hermann?“, unterbrach Kraidler seine Kollegin.
„Ja, Klaus-Joachim Hermann, unser Rechtsmediziner. Er fasst immer gerne alle Daten und Fakten an einem Tatort zusammen, auch wenn dies eigentlich die Aufgabe der Tatortermittler ist. Und bevor Sie weiterfragen: Genauer Todeszeitpunkt erst nach der Autopsie.“
Ein breites Grinsen zierte ihr Gesicht und Kraidler wusste, worauf seine Kollegin hinauswollte. Eine gerne gestellte Frage, die aber immer ohne eine genaue Auskunft blieb.
„Und das mit der Ablage ist sicher?“
Buchner-Puck nickte.
„Was ich Sie fragen wollte, sind Sie mit dem Präsidenten des LKA verwandt?“
Buchner-Puck schüttelte den Kopf. „Puck heißt mein Ex. Habe den Namen bei der Heirat angehängt. War damals schon ein Thema in Mühlhausen und in der Polizeiinspektion. Mein Ex ist aber ein Neffe von Werner Puck. Habe mit beiden nichts mehr zu tun. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Aber es wäre schön, wenn Sie nur Buchner zu mir sagen würden. Das Puck können Sie sich schenken.“ Das breite, aufgesetzte Grinsen in Buchners Gesicht sagte Kraidler, dass er eine weitere Frage in diese Richtung tunlichst unterlassen sollte.
„Okay. Sorgen mache ich mir nicht. War nur zur Orientierung. Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat.“
Buchner nickte. „Ja, hab mir da auch mal ein paar Infos von Ihnen besorgt. Mein Paps war bei der Volkspolizei, Pass- und Meldewesen, und der hat mir das mit in die Wiege gelegt.“
„DDR-Kind?“
„Ja, bin stolz drauf!“
„Und?“
„Nichts. Alles im Grünen. Sind wohl in Ordnung, auch als zugezogener LKAler aus Hessen. Das mit der Abteilung Staatsschutz irritiert aber.“
„Na, dann bin ich ja beruhigt, dass meine Kollegen nicht geplaudert haben.“ Kraidler grinste.
Der Regen hörte auf und einzelne Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolken. Das Glitzern der Wassertropfen an den Blättern der Bäume und Sträucher verzauberte die Umgebung in ein beschauliches Stückchen Erde, wären da nicht das flatternde Absperrband und die Polizeifahrzeuge gewesen.
Kraidler schaute in den Himmel. „Scheint sich zu bessern. Na, dann wollen wir mal.“ Er war schon in Richtung Wald unterwegs, als Buchner ihn zurückpfiff. Irritiert drehte er sich zu seiner Kollegin um, die nach oben deutete. Kraidler sah in die Richtung, in die seine Kollegin wies, und landete bei einer runden Aussichtsplattform weit oberhalb der Baumkronen.
„Das können Sie vergessen …“, murmelte er vor sich hin und kalter Schweiß legte sich auf seine Stirn. Langsam ging er zurück und Buchner sah ihn erschrocken an.
„Mein Gott, Sie sind ja kalkweiß. Ist Ihnen schlecht?“
Kraidler nickte. „Müssen wir da hoch? Ich habe extreme Höhenangst.“
„Aber ihr habt doch auch Hochhäuser in Hessen. Frankfurter Skyline?“
„Im Haus ist das ja auch kein Problem. Aber draußen, wenn ich sehen kann, wie hoch ich bin.“
„Na, wenn es weiter nichts ist. Sie müssen ja nicht runterschauen. Und es gibt eine Treppe im Innern für etwas ängstliche LKA-Beamte. Sie müssen nicht über die Außentreppe hoch. Aber ich denke, Sie verpassen da was. Wir haben nach dem Regen sicherlich eine wunderbare Aussicht bis weit zum Horizont.“
„Wie hoch muss ich?“, fragte Kraidler und langsam kam wieder Farbe in sein Gesicht.
„Knappe vierzig Meter. Der Pfad beginnt bei zehn und führt dann hinauf bis auf fünfundzwanzig Meter. Von dort kann man auch schon über den Wald schauen. Aber von der Plattform aus hat man den besseren Blick.“
Kraidler winkte ab. „Interessiert mich nicht, euer Wald von oben. Wo ist die Tür?“
Buchner deutete nach rechts, an dem Turm vorbei und Kraidler lief los. Er trat unsicher von einem Bein auf das andere und Buchner glaubte ihm, dass er Angst vor der Höhe hatte, denn er bewegte sich vorwärts, als ob er betrunken wäre.
Nach ein paar Minuten, in denen sich Kraidler Stufe für Stufe in dem Turm nach oben gekämpft hatte, erreichte er eine Tür. Der Ausgang führte auf eine runde Aussichtsplattform, die mit einer Brüstung umgeben war. Der Tote saß, zu Kraidlers Erleichterung, direkt rechts neben der Tür. Beide Beine waren ausgestreckt und weit gespreizt, der Oberkörper lehnte rücklings an der Wand. Die weit aufgerissenen Augen und der blutverschmierte Mund des Opfers waren das Erste, was ihm auffiel. Er sah sich kurz um und ging dann in die Hocke, damit die Brüstung ihm die Sicht auf den Horizont verbarg. Er durfte nur nicht nach unten schauen, in die Tiefe, in den Abgrund.
Mit einem Kugelschreiber schob Kraidler vorsichtig die Jacke des Opfers auseinander und schaute sich aufmerksam einen länglichen feinen Einschnitt im Hals des Toten an. Auch hier war, wie am Mund, eine bereits eingetrocknete Blutspur zu erkennen, die sich über die Oberbekleidung verteilt hatte und im Bund der Hose verschwand.
„Wenn er hier erstochen wurde, müsste eine Menge Blut zu sehen sein. Somit gebe ich Ihrem Hermann recht. Das ist eindeutig Ablage. Aber weshalb macht sich ein Mörder die Mühe und schafft sein Opfer hier herauf? Es gibt keinen Aufzug. Das ist Schwerstarbeit. Der wiegt doch mindestens siebzig bis achtzig Kilo. Und was ist mit seinem Mund? Hat der sich auf die Lippen gebissen?“
„Nein. Ihm wurde die Zunge abgeschnitten. Postmortal, sagt Hermann. Aber ganz sicher ist er sich da nicht. Das muss er noch genauer untersuchen. Der Stich ist aber Todesursache. Ausgeblutet.“ Buchner ging ebenfalls in die Hocke.
„Na, dann war es wohl kein Affekt. Wenn jemand impulsiv handelt, nach einem Streit, dann macht man so etwas nicht. Das ist dann geplant oder Symbolik. Ich war vor ein paar Jahren in einer Vorlesung. Äußerst interessantes Thema. Hat man die Zunge bei ihm gefunden?“
„Keine Ahnung. Weshalb?“
„Na, dann wäre es auf jeden Fall Symbolik. Hatte er etwas bei sich? Ein Telefon oder sonst etwas?“
„Ich weiß nicht. Wir hatten die Anweisung den Toten nicht zu durchsuchen und zu warten, bis Sie kommen. Vermutlich ist da ja ein Staatsgeheimnis in seinen Taschen.“
Kraidler stocherte bereits mit seinem Kugelschreiber in allen Jackentaschen des Opfers herum und ignorierte die spitzfindige Bemerkung seiner Kollegin. In den Hosentaschen wurde er fündig. Er zog einen silbernen Schlüsselbund heraus, an dem offensichtlich ein Autoschlüssel hing, und aus der anderen Taschen ein Smartphone, das in einem ledernen braunen Case steckte.
„Können Sie mir mal ein paar Handschuhe besorgen?“, fragte Kraidler über die Schultern hinweg und klappte dabei das Case mit dem Kugelschreiber auf.
„Und holen Sie mal einen Kollegen. Vielleicht steht das Auto von dem Toten auf dem Parkplatz. Mit der Fernbedienung kann man es ja leicht prüfen.“
Wenige Sekunden später bekam Kraidler wortlos ein paar Latexhandschuhe entgegengehalten.
„Irgendwoher kenne ich den …, der kommt mir bekannt vor.“ Buchner ging wieder in die Hocke und schaute sich den Toten aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln an.
Kraidler nahm währenddessen das Telefon in die Hand und hielt es etwas schräg gestellt gegen das Licht. „Na dann wollen wir mal“, murmelte er dabei. „Vielleicht haben wir ja Glück.“
Buchner schaute zu ihm hoch. „Denken Sie wirklich, man kann es so einfach entsperren?“
„Schauen wir mal. Wenn es nicht klappt, geht es zur KTU, die können das auch.“ Mit einer Zickzack-Bewegung führte Kraidler seinen Zeigefinger über das Display hinweg und ein breites Grinsen verzauberte sein Gesicht.
„Haben Sie es?“, fragte Buchner ungläubig und stand auf.
„Ja. Viele Menschen verwenden gerne einen Wischcode. So ein Kreis oder ein Viereck oder Dreieck. Ist halt einfach zu merken und schnell mit einer Hand auszuführen. Ein KTUler hat mir mal gezeigt, wie man erkennen kann, wo der Anfang und wo das Ende von so einer Wischbewegung ist. Ist eigentlich ganz einfach und man könnte es auch gleich sein lassen, das Handy damit zu sperren. Ein vierstelliger Code ist nicht so einfach zu knacken, auch wenn man die Punkte auf dem Display gut erkennen kann. Und mit einer zufälligen Tastenanordnung geht’s schon gar nicht mehr. Mit einem Knock-Code dann schon wieder eher.“
Buchner rollte die Augen und Kraidler verkniff sich weitere Ausführungen. Er tippte und wischte auf dem Display herum und nach wenigen Sekunden verengte sich sein Blick. Eine breite Sorgenfalte schob sich auf seine Stirn. „Von wem wurde ich angefordert?“, fragte er interessiert.
„Direkt von wem?“
„Ja. Muss ja jemand gewesen sein.“
„Keine Ahnung. Nachdem wir die ersten Bilder des Tatorts und des Toten in die Inspektion übertragen hatten, kam kurz darauf eine Mail, dass ein Herr Jochen Kraidler vom LKA, Dezernat 22, kommen würde. Wir sollten alles so belassen, wie wir es vorgefunden haben, und nichts anrühren. Vor allem den Toten selbst nicht. Weshalb fragen Sie?“
„Gibt es häufig Familiennamen in der Region wie Siegesmund, Lauinger, Taubert, Tiefensee oder Gabriel?“

  (C) by Philipp Porter, Lützelbach