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Jochen Kraidler - Einfach nur Mord

JOCHEN KRAIDLER

Einfach nur Mord

Philipp Porter
JOCHEN KRAIDLER - Einfach nur Mord

Kriminalroman


Jochen Kraidler - Einfach nur Mord

Jochen Kraidler saß an seinem Schreibtisch im LKA Erfurt und schaute sich Tatortbilder an. Er hielt ein Foto, das den Kopf eines Toten großformatig zeigte, in den Händen. Ein massiger, glatt rasierter Schädel mit einem auf den Hinterkopf tätowierten schwarzen Lorbeerkranz, in dem die Zahl achtundachtzig stand, war auf dem Bild zu erkennen. Und direkt in der Mitte des Lorbeerkranzes eine Einbuchtung. Unschwer war zu erkennen, dass der Schlag sehr heftig gewesen sein musste, denn die Schädeldecke war stark verformt und die Kopfhaut ringsum eingerissen.
„Da hatte einer eine ganz schöne Wut im Bauch …”, murmelte Kraidler und zog ein weiteres Foto aus der Mappe heraus. Dieses zeigte die Arme des Toten, in unnatürlicher Stellung verdreht. Auf dem nächsten Bild waren die Beine zu sehen. Hier erkannte er einen zersplitterten Oberschenkelknochen, der spitz aus der Hose des Opfers ragte. Unschwer war zu erkennen, dass der Mann mehrmals an- oder überfahren wurde. Die Tatsache, dass er an der Wand einer Lagerhalle sitzend aufgefunden wurde und man an dieser erhöhte Anhaftungen von seiner Jacke und Hose sichergestellt hatte, legte den begründeten Verdacht nahe, dass er erst stehend und dann sitzend angefahren wurde. Das Opfer musste, so der Bericht der Rechtsmedizin, mehrfach massiv stumpfer Gewalt ausgesetzt gewesen sein – vermutlich durch die Stoßstange eines Fahrzeuges oder ein dazugehöriges Anbauteil. Letztendlich hätte aber ein gezielter Schlag auf den Hinterkopf des Mannes mittels eines stumpfen Gegenstandes den Tod herbeigeführt. Vermutlich, so der Schlusssatz des Berichtes der Rechtsmedizin, wäre das Opfer aber kurze Zeit später auch an seinen schwerwiegenden inneren Verletzungen verstorben.
Kraidler legte die Bilder und den Bericht zur Seite. Er mochte diese Typen mit den Glatzen nicht sonderlich, doch dass man einen Menschen derart zurichtete, konnte er nun auch nicht verstehen und akzeptieren.
In den weiteren Unterlagen war lediglich die Wohnortadresse des Verstorbenen vermerkt. Eine Zugehörigkeit zu einer dem LKA bekannten rechtsextremistischen Gruppierung gab es bisher nicht. Doch dies hatte nichts zu bedeuten.
Kraidler schaute sich die Adresse an und klappte die Mappe zu. Er würde erst einmal in die Wohnung des Toten fahren und sich dort ein wenig umschauen. Dann würde er entscheiden, ob sein Dienststellenleiter ein Team zusammenstellen sollte oder er vorerst weiter alleine ermitteln würde.
Die Kleider und Gegenstände, die das Opfer bei sich gehabt hatte, waren noch in der Rechtsmedizin. Kraidler wollte schon los, um den Wohnungsschlüssel dort zu holen, als er nochmals zur Fallakte griff. Ein kurzer Blick sagte ihm, dass er sich den Weg sparen konnte. Es wurden keine Schlüssel bei dem Opfer gefunden. Lediglich seine Kleidung, seine Schuhe, ein paar handschriftliche Notizen, eine zwei Tage alte Tankquittung, vier Ringe aus Silber, ein billiges Mobiltelefon, sein Personalausweis und ein Klappmesser standen auf der Liste.

Die Fahrt zur Wohnortadresse dauerte nicht lange, da das Opfer direkt in Erfurt gemeldet war. Sie führte nach Norden, über die L2156 in Richtung Ilversgehofen. Kraidler benötigte nach wie vor ein Navigationsgerät, da er sich seit dem Umzug vor fast vier Monaten nach Thüringen immer noch nicht zurechtfand. Die ganzen Stadtteile rund um Erfurt und die kleinen Ortschaften, die stellenweise gerade einmal sechzig oder siebzig Häuser hatten, waren für ihn verwirrend.
Als er die Spittelgartenstraße erreichte und dort einbog, sah er auf der linken Seite einen großen Wohnblock. An der Zieladresse, die die nette Frauenstimme ansagte, der Martin-Niemöller-Straße, war er dann überrascht. Es waren insgesamt drei große Wohnblocks in einer Reihe und einer stand längsseits. Kraidler fasste in die Jackentasche und holte einen Zettel heraus. Nummer 38 stand hinter dem Straßennamen. Die Hausnummer hatte er in das Navi nicht eingegeben und daher hatte die nette Frau mit der immer gleichen netten Stimme ihn lediglich bis zur Einmündung der Martin-Niemöller-Straße navigiert. Langsam fuhr er los, an dem ersten Wohnblock entlang. Die erste Hausnummer war die Sechs. Am Ende des Blockes war die Nummer sechzehn zu lesen. Kraidler bog rechts ab und fuhr in die nächste Straße ein. Er schaute auf die Hausnummer. Die 28 stand in gleicher Ausführung wie die bereits gelesenen über der Eingangstür. Somit waren die Wohnblocks alle mit sechs Hausnummern versehen. Und da er zur Hausnummer 38 musste, konnte es nur der letzte Block sein, die Wohnung musste fast am Ende der Straße liegen.
Kraidler parkte seinen Volvo und schaute an der Frontseite des Wohnblocks entlang. Augenscheinlich keine schlechte Wohngegend. Es sah sauber und aufgeräumt aus. Doch ob er bei den Nachbarn des Toten Erfolg haben würde, sollte er sie befragen, bezweifelte er schon jetzt. Denn in diesen Wohnblocks waren Bekanntschaften unter den Bewohnern eher selten.

Kraidler schaute sich die Namensschilder an. Alle waren sauber beschriftet, keines überklebt, alle in gleicher Schriftart und auf den Millimeter genau platziert. Hier hatte ein penibler Hausmeister alles im Griff. Der Name K. Obermann stand in der zweiten Reihe von oben. Kraidler schaute an dem Haus empor. „Dritter Stock …”, murmelte er und drückte auf einen Klingelknopf rechts neben dem Namen des Opfers. Nach ein paar Sekunden versuchte er es mit der Klingel auf der anderen Seite und kurz darauf summte der elektrische Türöffner.
Im dritten Stockwerk angekommen, schaute er sich um. Keine Tür stand offen und niemand war auf dem Flur. Langsam lief er auf gut Glück los, da das Treppenhaus, aus dem er heraustrat, genau in der Mitte des Gebäudes lag. Als er am Ende des Ganges ankam, wurde hinter ihm eine Tür geöffnet.
„Sie sind falsch …”, flüsterte eine junge Frau mit belegter Stimme. Sie war Mitte zwanzig und schaute Kraidler aus verschlafenen Augen an. Ihre verschmierte Wimperntusche erregte seine Aufmerksamkeit. In den Haaren der Nachtschwärmerin erkannte er bunten Glitter und unter dem Hausmantel einen extrem kurzen roten Minirock aus billigem Kunstleder. Offensichtlich war die junge Frau noch nicht lange zu Hause und schon gar nicht im Bett gewesen.
„Guten Tag. Mein Name ist Kraidler, Jochen Kraidler. LKA Erfurt.”
Die junge Frau nickte und schaute sich seinen Ausweis, den er ihr entgegenhielt, noch nicht einmal an.

  (C) by Philipp Porter, Lützelbach