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Philipp Porter
Der Flohmarktmörder

Kriminalroman


Prolog

Claudia Wolf verließ das Klinikgebäude am siebzehnten Juli gegen dreiundzwanzig Uhr. Sie war erleichtert, dass dieser schreckliche Tag endlich vorüber war. Die teilweise schweren Unfälle in der Notaufnahme und den damit verbundenen Stress war sie einfach nicht gewohnt. Auf der Entbindungsstation, in der sie als Schwesternschülerin ihren letzten Dienst absolviert hatte, war es weitaus schöner gewesen. Obwohl die neugeborenen Kinder und auch die zwei Frühchen der Station ihre ständige Aufmerksamkeit benötigten – und teilweise auch lautstark forderten –, hatte sie sich dort nach einem langen Arbeitstag nicht so zerschlagen gefühlt.
Langsam lief Claudia Wolf durch den dunklen Park, der sich hinter dem Klinikgebäude und über den Hügel entlangzog, und genoss die vollkommene Stille um sie herum. Würde jeder Tag in ihrem zukünftigen Leben sich so gestalten, würde sie sich einen anderen Beruf suchen müssen. Doch nicht nur die Arbeit, sondern auch die unfreundlichen Menschen machten ihr zu schaffen. So wie eine Woche zuvor: ein angetrunkener Obdachloser, der sie ständig begrapscht hatte, ein Bauarbeiter, der sie ein geiles Schwesterchen nannte, und vor allem dieser Autoschlosser, der sie in Anwesenheit ihres Chefs so angeschrien hatte, dass sie heulend aus dem Behandlungsraum gelaufen war.
Nach wenigen Schritten hörte sie plötzlich ein leises Rascheln, das aus einer dichten Gruppe von Holunderbüschen kam.
„Hallo“, rief Claudia Wolf zaghaft in die Richtung der Büsche und blieb stehen. „Hallo, ist da jemand?“, rief sie etwas lauter. Doch in ihrer Stimme schwang bereits ein ängstlicher Unterton mit.
Claudia Wolf wollte weitergehen, als erneut das leise Rascheln von Blättern zu hören war. Im schwachen Licht der Laternen, die in weitem Abstand voneinander im Park aufgestellt waren und ihr schwaches Licht wie einen Schleier über den Fußweg legten, sah sie plötzlich einen Mann zwischen den Büschen hervortreten.
Claudia Wolfs Herz schlug urplötzlich um das Doppelte schneller, und um ihren Hals legte sich eine unsichtbare Fessel. „O Gott ...“, stieß sie leise hervor und in ihren Gedanken spielte sich ein Szenario ab, das sie keineswegs erleben wollte. Sie trat einen Schritt zurück und wäre fast über die Grasabgrenzungen gestolpert, die den gesamten Weg säumten. Dann erkannte sie den Mann, der im Halbschatten einer Laterne stand. „Sie?“, sagte Claudia Wolf ungläubig und schaute sich instinktiv nach allen Seiten um. Doch sie war alleine auf dem schmalen Weg. Auch am Parkende oben auf dem Hügel war keine Menschenseele zu sehen.
Nach kurzem Zögern verließ Claudia Wolf mit bedächtigen Schritten den Weg und betrat die Rasenfläche. „Was wollen Sie?“, fragte sie, bekam aber nur ein leises: „Kommen Sie mit“ zu hören.
Claudia Wolf folgte der Aufforderung und schlüpfte zwischen den herunterhängenden Ästen eines Holunderbusches hindurch. „Sagen Sie doch, was wollen Sie von mir?“
Einen Sekundenbruchteil später zerschmetterte eine verchromte Eisenstange Claudia Wolfs Schädeldecke. Ein kurzer Aufschrei wurde durch einen brutalen Schlag gegen ihren Kehlkopf erstickt. Wieder und wieder schoss die verchromte Stange hinab, bis nur noch eine breiige, klebrige Masse von Claudia Wolfs Kopf zu erkennen war.

Kapitel 1

Während Jutta Habermann kleine Brotstücke ins Wasser warf und gelangweilt zusah, wie dicke Karpfen danach schnappten, fragte sie sich, weshalb sie sich für dieses gottverdammte Nest entschieden hatte. Ihr hätte die Welt offen gestanden – nicht gerade die Welt, aber immerhin München. Weshalb nur hatte sie sich für dieses Bad-Kolmbach am Tannenmeer entschieden? Die drei Einbrüche in Wohnhäuser und die paar gestohlenen Autoradios der vergangenen Woche waren nicht gerade die Herausforderung, die sie für ihre berufliche Zukunft gesucht hatte. Lustlos nahm Jutta die letzten Brotwürfel, warf sie einem bunt gefiederten Erpel zu und legte sich rücklings in die Wiese.
Irgendwie, so gestand sie sich ein, war ihr Leben aus den Fugen geraten. Hätte sie sich von Clemens doch nicht trennen sollen? Sie schüttelte den Kopf.
„Nein“, murmelte Jutta leise vor sich hin. „Nein, nein, nein“, wiederholte sie mehrmals und fühlte sich zugleich etwas besser. Clemens lebte in der Vergangenheit, und ihre Problemchen hier in Bad-Kolmbach würde sie über kurz oder lang in den Griff bekommen.
Ironisch lächelnd schaute Jutta über den See und fragte sich zugleich, wer diesem Tümpel wohl den Namen Tannenmeer verliehen hatte. Hier war weder eine Tanne in der Nähe, noch war diese Pfütze ein Meer. Als sie vor einem halben Jahr den Namen Bad-Kolmbach und Tannenmeer zum ersten Mal gehört hatte, dachte sie an eine attraktive Kurstadt und einen See, auf dem weiße Segel- und schlanke Ruderboote kreuzten. Sie liebte Segeln; ihr Segelschein, den sie bereits in früher Jugend gemacht hatte, war bis vor einem halben Jahr sein Geld wert gewesen. Jede freie Minute, die sie sich bei ihrem stets vollen Terminkalender ergattern konnte, verbrachte sie auf ihrem Segelboot und genoss die steife Brise, die über die Ostsee pfiff. Aber dies hier war das Letzte! Eine Pfütze, auf der nicht einmal ein paar Modellboote kreuzten, damit die lieben Entlein und die fetten Fische nicht gestört wurden.
Kinderlachen riss Jutta aus ihren Gedanken. Sie schaute hinüber zu dem Minigolfplatz, der neben dem schmucklosen Kurparkrestaurant angelegt war. Ein Mädchen, ungefähr im gleichen Alter von Vanessa, tollte dort mit seinem Vater und seiner Mutter herum. Im gleichen Augenblick überkam Jutta eine Sehnsucht, die sie bisher selten verspürt hatte. Sie schloss die Augen, legte sich zurück ins Gras und versuchte, sich ‚ihr kleines Mädchen’ in Gedanken vorzustellen. Enttäuscht öffnete Jutta einige Sekunden später die Augen und gestand sich ein, dass sie wohl eine Rabenmutter war.
Die Rolle, in die sie – jedenfalls nach Meinung ihrer Ex-Schwiegermutter – vor sechsunddreißig Jahren hineingeboren worden war, lag ihr einfach nicht. Sie konnte weder einen Mann häuslich betreuen noch ein Kind mütterlich beglucken. Ihr fehlten offensichtlich einige Paare X-Chromosomen, die eine Frau an der richtigen Stelle in sich tragen sollte.
„Mein Kind, du kannst doch nicht ...“, äffte sie ihre Ex-Schwiegermutter nach und dachte an ihren Ex-Mann und dessen blödes Gesicht, als sie ihm vor einem halben Jahr sachlich mitteilte, dass sie sich von ihm und seiner grässlichen Mutter trennen würde. Ob auch sie einmal zu Vanessa in einer ähnlichen Situation das Gleiche sagen würde? Sicherlich nicht; oder doch?
Noch ehe Jutta sich mit diesem Thema auseinandersetzen konnte, wurde sie vom Vibrieren des Handys in ihrer Hosentasche gestört. Hastig schob sie die Hand in die Jeans, zog das Telefon heraus und klappte es auf.
„Habermann“, sagte Jutta in den Winzling hinein und ein Lärmpegel aus Polizeisprechfunk und Straßenlärm drang lautstark an ihr Ohr.
„Wo sind Sie? Kommen Sie umgehend ins Präsidium! Wir haben ein Tötungsdelikt!“
„Beimer?“, fragte Jutta, obwohl sie genau wusste, dass er es war.
„Wer sonst?“, schnaubte Heinz Beimer zurück. „Kennen Sie noch jemanden, der Sie unter dieser Nummer an Ihrem freien Tag anruft?“
„Nein“, murmelte Jutta und gab Beimer recht. Niemand im Präsidium würde auf den Gedanken kommen, einen Kollegen in seiner Freizeit anzurufen, außer er hieß Heinz Beimer und war ihr Partner. Doch da sie an diesem Tag keine weiteren Verpflichtungen hatte – wie auch an ihren anderen freien Tagen –, sagte sie nur: „Ich komme“, und klappte das Handy zu.
Allmählich stieg eine Erregung in ihr auf, die sie schon seit Monaten vermisste. Alleine das Wort ‚Tötungsdelikt’ löste dieses Gefühl in ihr aus, das sie aber zugleich über ihre Einstellung zum Leben anderer Menschen nachdenklich werden ließ. Freute sie sich wirklich, dass ein anderer Mensch tot war, oder war es die Herausforderung, den oder die Täter dingfest zu machen?
„Egal“, sagte Jutta zu sich selbst, schnappte die leere Plastiktüte, in der die Brotwürfel für die Fische gewesen waren, und hetzte zu ihrem silberfarbenen BMW, der in der Nähe geparkt war.
Jutta machte sich nicht erst die Mühe, die Tür zu öffnen. Sie sprang mit einem Satz in den offenen Wagen und drehte den Schlüssel im Zündschloss, noch ehe sie richtig saß. Mit Vollgas und durchdrehenden Reifen steuerte sie den Wagen aus dem Parkplatz hinaus und jagte kurz darauf die kurvenreiche Landstraße zur Kreisstadt hinauf.

Kapitel 2

Genau dreizehn Minuten später steuerte Jutta ihren Z3 in eine Parklücke direkt vor dem Präsidium. Das Gebäude hing wie ein weißgraues Geschwür an dem alten Schloss, in dem der Landrat seinen Sitz hatte, und Jutta fragte sich jedes Mal, welcher Architekt der Neuzeit für dieses ungleiche Paar wohl verantwortlich war und was sich dieser Mensch dabei gedacht hatte. Irgendwann einmal, wenn sie sich etabliert hatte und die richtigen Leute in diesem Landstrich kannte, würde sie sich dieses Themas annehmen und dem Erschaffer einen Besuch abstatten. Vielleicht konnte sie ihn ja überreden, wenigstens die Fassade des Präsidiums der des Schlosses anzugleichen.
„Habermann“, schallte es über den Parkplatz hinweg und ließ sie zusammenzucken. „Träumen Sie?“
Jutta blies die angestaute Luft aus ihren Lungen und ärgerte sich über sich selbst. Wieder einmal hatte Heinz Beimer sie beim Löcher-in-die-Luft-Glotzen, wie er es nannte, erwischt. Sie hasste es, wenn er jetzt gleich den Kopf verständnislos schütteln und ihr gnadenlos zeigen würde, was er von der norddeutschen Küstenkrabbe hielt.
„Nein“, rief Jutta ärgerlich zurück. Das Blitzen in ihren Augen musste Beimer wohl gewarnt haben, denn das Kopfschütteln blieb aus.
„Na, dann kommen Sie. Die Kollegen sind bereits am Tatort und die Spurensicherung ist vor zehn Minuten losgefahren.“
Jutta sprang mit einem Satz über die kleine Buchsbaumhecke, die den Parkplatz vom Vorgarten des Präsidiums abgrenzte, und lief Beimer nach, der bereits losgegangen war. Als sie neben ihm ankam, passte sie ihren Schritt dem seinen an, ging einige Meter schweigend weiter und fragte dann ungestüm: „Was ist passiert?“ „Frauenleiche aus der Nacht. Oben am Krankenhaus. Ein Patient, der im Krankenhauspark spazieren ging, hat sie gefunden.“
„Wann?“, fragte Jutta ungläubig zurück und schaute auf ihre Armbanduhr.
„Kurz vor elf.“
„Weshalb so spät? Sind in dem Park denn so wenige Leute unterwegs?“
„Ich schlage vor, Sie sehen selbst, dann werden sich die Fragen erübrigen.“
Jutta begann zu ahnen, was Beimer gemeint hatte. Das Aufgebot von Polizeifahrzeugen am Kreiskrankenhaus und die Absperrung in dem dahinter liegenden Park waren unübersehbar. Solch ein Aufhebens wurde nicht um einen Leichenfund veranstaltet, wenn der Tote einfach nur im Gebüsch lag. Hier war offenbar mehr zu sehen, als den Kollegen lieb war. Selbst die Presse, die in der Regel bei Unfällen vorgelassen wurde, musste hinter der Absperrung bleiben.
Beimer ließ den Dienstwagen bis zur Polizeiabsperrung vorrollen und schaute sich um. Langsam schob er sein kantiges Kinn nach vorne. Seine blassblauen Augen schienen noch ein Stück näher zusammenzurücken. Jutta hatte schon bemerkt, dass dies stets im Zusammenhang mit der Presse geschah, aber nicht, wie man annehmen sollte, weil die Reporter zu aufdringlich gewesen wären. Im Gegenteil. Beimer suchte förmlich das Blitzlichtgewitter. Er stellte sich gerne in Pose, auch wenn es sich nur um einen kleinen Einbruch handelte.
Nun suchte er mit den Augen die Umgebung hinter der Absperrung ab. Als er gefunden hatte, was er suchte, stieg er aus und ging auf einen uniformierten Kollegen zu, der etwas abseits stand. Er sprach mit ihm und Jutta ahnte, was gleich geschehen würde.
„Halten Sie das für eine gute Idee?“, fragt sie provokant, als Beimer wieder beim Wagen war, und starrte ihn unverhohlen über das Wagendach an.
„Ja! Und ich sage Ihnen noch etwas: Es geht Sie nichts an!“
Jutta musste ihren aufflammenden Zorn hinunterschlucken. Sie hatte gegen Beimer keine Chance. Er hatte zu viele Verbündete in Bad-Kolmbach, und der Mächtigste davon war sein Onkel, der Landrat. Würde sie in solch einer Situation die offene Konfrontation suchen, sie hätte schon nach der ersten offiziellen Beschwerde verloren.
Den Mann, der in Begleitung eines Polizeibeamten langsam auf sie zukam, erkannte Jutta erst beim zweiten Hinsehen. Es war Paul Bischoff, Reporter vom Regionalblatt. Schon ging Beimer auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und nahm ihn diskret zur Seite. Jutta konnte nicht verstehen, worüber die beiden redeten, doch die Blicke, die hin und wieder von Beimer in ihre Richtung gingen, sprachen Bände.
Nach kurzer Unterredung mit Bischoff kam Beimer zurück, und das Lächeln um seine farblosen Lippen sagte Jutta alles.
Innerlich schäumte sie vor Zorn, bewahrte aber ihre Fassung.
„Herr Beimer, wir ermitteln gemeinsam in diesem Fall, und das schließt ein, dass Sie nicht tun und lassen können, was Sie wollen. Sie wissen genau, dass die Presse Ermittlungsergebnisse veröffentlichen wird, die uns vielleicht nur nützlich sind, wenn wir sie nicht an die große Glocke hängen.“
„Überlassen Sie das mal mir, Schätzchen“, antwortete Beimer abfällig und Jutta explodierte.
„Schätzchen? Was bilden Sie sich eigentlich ein! Ich verbiete mir eine solche Wortwahl! Und eines sage ich Ihnen: Wenn Sie den Fall verhauen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie dies zu verantworten haben!“
Beimer lachte auf. Dann fuhr er sich mit beiden Händen durch sein strohblondes Haar, schüttelte es mit einer scheinbar einstudierten Kopfbewegung wieder auf und ging in Richtung Tatort davon.
Jutta bebte vor Zorn. Sie hatte sich gegen solche Proleten noch nie durchsetzen können. Sie konnte nur mit Menschen ein Streitgespräch führen, die wenigstens etwas gebildet waren. Mit Menschen wie Heinz Beimer konnte sie nichts anfangen. Widerwillig ging sie ihrem Kollegen nach und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass der Reporter ihr folgte.
„Er mag keine Frauen in Positionen, die eigentlich Männern vorbehalten sein sollten.“
Jutta wirbelte herum. „Wie bitte?“
Paul Bischoff hob abwehrend beide Hände, da Jutta ihn fast angesprungen hätte. „Ist nicht meine Meinung. Ich finde, Frauen gehören in jede Position, in der sie ihre Fähigkeiten einbringen können. Sie jedenfalls sind bestimmt eine sehr gute Kriminalbeamtin. Weshalb Sie aber hier in Bad-Kolmbach gelandet sind, habe ich noch nicht herausbekommen.“
„Sie scheinen ja Ihre Hausaufgaben gemacht zu haben, Herr Bischoff“, antwortete Jutta spitz und griff nach dem Presseausweis, der an einem Gummiband um Bischoffs Hals hing. Nach einem kurzen Blick ließ sie ihn wieder fallen und trat einen Schritt näher. „Hören Sie, Herr Bischoff: Auch wenn Beimer anscheinend Ihr Busenfreund ist, warne ich Sie. Wenn Sie irgendetwas veröffentlichen, das die Ermittlungen behindert, mache ich Sie fertig. Ist das klar?“
Bischoff nickte, hob seine Digitalkamera ans Auge und schoss ein Bild von Jutta. „Ist klar, Herr Kommissar; oder legen Sie Wert auf ‚Frau Kommissarin’?“
„Sehr witzig“, zischte Jutta und ging weiter. „Was meinten Sie mit: Er mag keine Frauen in Positionen, die Männern vorbehalten sein sollten?“
„Wie ich es sagte. Heinz Beimer mag keine Frauen in der beruflichen Welt. Und wenn wirklich welche in seinem direkten beruflichen Umfeld tätig sind, lässt er sie auflaufen, wo immer er kann, oder es sind eben Schätzchen. Wenn es nach ihm ginge, hätten Sie nicht einmal einen Fuß über die Schwelle des Präsidiums bekommen. Leider hatte Pol wohl ein gewaltiges Wörtchen mitzureden und Heinz wie auch der liebe Herr Landrat haben anscheinend den Kürzeren gezogen.“
Jutta blieb stehen und schaute Bischoff fest in die Augen. „Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“
Bischoff nickte. „Sicher, wenn es nicht zu persönlich ist.“
Jutta musste lachen. „Nein ... Ich möchte nur wissen, wie Sie zu Beimer stehen. Ist es mehr als nur Beruf?“
Bischoff sah kurz zu Beimer, der mittlerweile auch stehen geblieben war und sie aus der Ferne beobachtete. „Ich glaube, früher hatten wir eine gute Freundschaft. Sie wissen schon: Wein, Weib und Gesang. Heute ist es nur noch der Job. Wir sind eine Art Symbiose eingegangen. Heinz liefert mir die Storys und ich bringe ihn dafür, so oft es eben geht, auf die Titelseite. Kommissar Heinz Beimer ermittelt und so. Sie wissen schon.“
Jutta nickte wissentlich. „Ja, ich weiß. Ich habe schon einiges über ihn gelesen. Auch ich mache meine Hausaufgaben. Und was ist mit Pol?“
Bischoff zog die Augenbrauen hoch. „Noch nicht bemerkt?“
„Was? Was habe ich noch nicht bemerkt?“, fragte Jutta und wusste nicht, worauf Bischoff hinauswollte.
„Sie sind Pols bestes Pferd im Stall. Er setzt als Präsidiumsleiter große Stücke auf Sie. Ich versichere Ihnen, bei Pol haben Sie einen Stein im Brett.“
Jutta schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie sah Bischoff noch einmal in die Augen und ging danach langsam zu Beimer hinüber.
„Was gibt es denn zu bereden?“, fragte Beimer, als Jutta neben ihm angekommen war.
„Nichts, was Sie interessieren könnte“, gab Jutta schnippisch zurück und ging weiter. Als sie zwischen den dichten Holunderhecken hindurchgeschlüpft war und den Leichnam der Frau im blutverschmierten Gras liegen sah, blieb sie stehen und wandte sich angewidert ab.

Kapitel 23

Jutta fiel buchstäblich in ihr Bett. Der Tag war lang gewesen und sie hatte sich völlig verausgabt. Nun lag sie endlich in kühle Laken gewickelt halb nackt auf ihrem Bett und wollte nur noch eines: schlafen. Doch noch kreiste immer wieder ein Gedanke durch ihren Kopf: Was war richtig, was falsch?
Jutta fragte sich, wie Bernades reagieren würde, wenn ... Nein, das konnte sie nicht riskieren. Sie musste behutsam vorgehen. So, wie sie es damals in der Schule getan hatte. Man sah sich, man redete miteinander, man traf sich vielleicht mal in der Disco oder zum Eis, und irgendwann ging man zusammen ins Kino. Und wenn der Junge einen dann zu einem romantischen Abendessen einlud, hatte man es geschafft – oder auch nicht.
Jutta musste über ihre eigenen Gedanken lachen. In der Jugend mochte dies alles Gültigkeit besitzen, doch im reiferen Alter wohl nicht mehr. Hier galten andere Spielregeln: Geschäftsessen, gemeinsame Interessen und die Bereitschaft zu einer Partnerschaft; oder zu einem One-Night-Stand?
Am nächsten Morgen wurde Jutta von dem durchdringenden Ton ihres Handys geweckt. Verschlafen sah sie zur Uhr an der Wand und fragte sich, wer sie um sechs Uhr in der Früh anrief. Ein paar Sekunden später wusste sie es und wunderte sich nicht einmal. Doch die Nachricht machte sie schlagartig hellwach.
Jutta wirbelte regelrecht in ihr Büro. „Zeigen Sie es mir“, rief sie Beimer zu, und Beimer hielt ihr gemächlich ein Blatt Papier entgegen. Jutta überflog den Bericht der Spurensicherung. „Das kann man fast nicht glauben! Ich hätte nicht gedacht, dass die Kollegen etwas finden.“
Beimer nickte wissend. „Die finden immer etwas. Es gibt keinen Täter, der nicht irgendeinen Hinweis hinterlässt. In einigen Jahren werden die Jungs vom Labor mit DNA-Scannern am Tatort unterwegs sein und jede noch so kleinste DNA aufspüren, die irgendwo in der Luft herumgeistert.“
„Beimer, jetzt geht die Fantasie aber mit Ihnen durch. Aber das hier ist wirklich toll. Wie haben sie es geschafft?“
„Sie haben erst den gesamten Schaft von Blut gesäubert und dann den Abdruck mit Ninhydrin sichtbar gemacht. Es färbt Aminosäurespuren aus dem Hautschweiß violett. Dann haben sie ein Foto gemacht und mit einem speziellen Programm den Hintergrund retuschiert. Und schon hatten sie die Fingerspur. Es ist zwar nur ein Teilabdruck, der auf dem unteren Rand des Heftes war, doch es sollte reichen.“
„Ist er schon beim BKA?“ Beimer nickte. „Ja. Die Kollegen aus dem Labor waren so frei. Sie haben ihn bereits gestern Abend übertragen. Sie dachten, sie würden uns eine Freude damit bereiten.“
„Unsere Kollegen scheinen allesamt fleißig zu sein.“ Jutta nahm die Akte von ihrem Schreibtisch, die sie am Abend zuvor gelesen hatte, und warf sie Beimer zu. „Wir wissen, wer die Tote ist.“
Beimer fing die Akte noch in der Luft auf, schlug sie auf und nahm die Blätter heraus. „Das ging aber flott. Haben die Kollegen die Familie bereits unterrichtet?“
Jutta zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Sie können es aber gerne übernehmen. Ich habe keine Lust, den Eltern zu erklären, dass ihre Tochter schon seit Wochen in diesem Gerätehaus liegt und buchstäblich von Maden aufgefressen wurde.“
„Ich denke, wir sollten mit Pol reden.“
„Weshalb?“, fragte Jutta verwundert.
„Pressemitteilung“, antwortete Beimer und stand von seinem Schreibtischstuhl auf. „Es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis wir den Mistkerl haben.“
„Beimer!“, rief Jutta aufgebracht. „Wir haben doch noch nichts!“
Beimer winkte abfällig ab und ging aus dem Büro. Jutta rannte hinter ihm her. „Beimer, das können Sie nicht tun! Wir warnen den Mörder doch nur, wenn wir jetzt an dieÖffentlichkeit gehen. Warten Sie noch etwas. Wir müssen erst den Taxifahrer finden, und die Kunden, die dieses japanische Werkzeug gekauft haben, müssen auch noch überprüft werden.“
„Das habe ich bereits. Alle sauber. Jeder hat sein Mokume Oire Nomi noch. Ich habe sie selbst gesehen. Und glauben Sie mir eines, Frau Kollegin, ich weiß, wann ich die Falle zuschnappen lassen kann. Das AFIS wird den Vergleichsabdruck finden, da wette ich drauf.“
Jutta blieb abrupt stehen. Beimer konnte anscheinend von seinem Vorhaben nicht abgehalten werden. Sie hoffte inständig, dass Pol ihm verbieten würde, die Pressemitteilung herauszugeben. Wenn das AFIS den Abdruck nicht in der Datenbank gespeichert hatte, würden sie den Mörder von Jeanette Obstein mit einer offiziellen Mitteilung in den Medien vorzeitig warnen.
Nachdenklich ging Jutta zurück in ihr Büro. Weshalb, so fragte sie sich, war Beimer einen Tag zuvor noch extrem zurückhaltend gewesen, und jetzt preschte er regelrecht davon? Woher nahm er die Sicherheit, dass der Abdruck wirklich in der zentralen Datenbank des BKA gespeichert war? Es schien gerade so, als ob die Identifizierung der Leiche für ihn das ausschlaggebende Ereignis war. Jutta drückte gerade die Bürotür ins Schloss, als das Telefon summte. Eilig ging sie zu dem Apparat und hob ab. Doch am anderen Ende der Leitung war nicht Pol, sondern eine Stimme, die sie von Stunde zu Stunde mehr vermisste.
„Ich habe vorläufige Ergebnisse für euch“, sagte Bernades und Jutta nickte stumm. „Möchtest du sie am Telefon erfahren, oder kommst du in die Gerichtsmedizin?“
Jutta hielt den Hörer mit beiden Händen fest. Ihre Gedanken kreisten und ihr Herz vollführte Doppelschläge.
„Hallo?“, fragte Bernades, da Jutta nicht antwortete.
„Ich komme zu dir. Ich fahre sofort los.“ Jutta legte den Hörer auf die Gabel zurück und schaute an sich hinab. Sie hatte am Morgen in der Eile die Jeans angezogen, die sie bereits einen Tag zuvor angehabt hatte und die an einigen Stellen verschmutzt war. Da sie bei jedem Taxi, das sie untersucht hatte, auf der Straße gelegen hatte, war dies kein Wunder. So konnte sie nicht zu Bernades fahren, das stand fest. Jutta drehte sich auf dem Absatz um und stürmte regelrecht aus dem Polizeipräsidium.
Zwanzig Minuten später stand Jutta vor ihrem Kleiderschrank. Nach langem Zögern zog sie ihre schwarze Jeans an und beließ es bei dem T-Shirt, das sie bereits am Morgen aus dem Schrank genommen hatte. Sie machte sich ja lächerlich, wenn sie aufgedonnert zu Bernades in die Gerichtsmedizin kam. Was sollte sie sagen, wenn sie auf ihre Kleidung angesprochen werden würde? Im letzten Halbjahr hatte Jutta immer nur legere Kleidung getragen und sicherlich würde es jedem auffallen, wenn sie sich plötzlich anders anzog.
Während Jutta in die Gerichtsmedizin fuhr, überlegte sie, ob sie Bernades zu einem Abendessen einladen sollte. Einem dienstlichen Essen, bei dem sie beide sich über den aktuellen Fall unterhalten konnten. Würde Bernades zustimmen? Jutta legte sich einige Formulierungen zurecht, doch als sie auf den Parkplatz der Gerichtsmedizin einbog, hatte sie den Gedanken bereits wieder über Bord geworfen. Sie konnte nicht. Was, wenn Bernades nein sagen und ahnen würde, was Jutta für sie empfand?
„Hallo“, rief Bernades und winkte Jutta zu, als diese nach einem zögerlichen Anklopfen das Büro betrat.
„Hallo“, sagte auch Jutta und ihr Herz klopfte so laut, dass sie schon befürchtete, dass Bernades es hören konnte. Ihr war schon vor der Bürotür schlecht geworden, doch jetzt wurde ihr regelrecht übel. ‚Das fängt ja gut an’, dachte sie und war heilfroh, dass Bernades an einem großen Fenster stand, das auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes zur Straße hin lag. Sie blätterte in einem dicken Buch und zeigte mit einer Geste an, dass sie gleich so weit wäre.
Jutta musste, und das wusste sie genau, sich irgendwie ablenken. Da sie bisher noch nicht in Bernades’ Büro gewesen war, schaute sich erst einmal um. Das Zimmer war gemütlich und mit viel Geschmack eingerichtet. In der Mitte thronte ein alter Schreibtisch mit einer riesigen Platte, den Jutta sich für ihr Büro gewünscht hätte. Ein alter, mit braunem Leder bezogener Sessel stand hinter dem Tisch und verlieh dem Ganzen etwas Fürstliches. Auch die Utensilien auf der Schreibtischplatte gaben dem Raum eher einen Museumscharakter als den eines Arbeitszimmers. An der Wand hinter dem Schreibtisch standen schöne geschnitzte Holzregale, die ganz mit Fachliteratur gefüllt waren. Auf der gegenüberliegenden Wand, wo Bernades hinsah, wenn sie an dem Schreibtisch saß, hingen Bilder und Zeichnungen von Leonardo da Vinci. Jutta ging darauf zu und sah sich die Zeichnungen genauer an.
„Es sind Drucke. Die Originale hängen in verschiedenen Museen.“
Jutta nickte zustimmend. Sie hatte auch nicht angenommen, dass an der Wand Originale hingen. Als sie bei dem Bildnis angekommen war, das die Mona Lisa zeigte, schaute sie fragend zu Bernades. „Weiß man eigentlich, weshalb sie so lächelt?“
Bernades kam auf Jutta zu und stellte sich dicht neben sie. Beide sahen sie sich das Bild an. „Die Gelehrten vermuten, dass sie sehr viele Geheimnisse kannte und aus diesem Grunde lächelte, als Leonardo sie malte. Du kannst es ja herausfinden. Immerhin bist du Kriminalbeamter und für so etwas ausgebildet.“
Beide lachten und gingen zurück zum Schreibtisch, an den sich Bernades jetzt setzte. „Ich habe dich angerufen, da ich dachte, du würdest dich für die Ergebnisse der Madenpopulation interessieren. Ich kann dir bereits sagen, wann die Frau abgelegt wurde.“
„Jeanette Obstein, hier aus Bad-Kolmbach“, unterbrach Jutta. Es war ihr sehr recht, dass Bernades ohne Umschweife zum Thema kam. Sie musste unbedingt auf andere Gedanken kommen, andernfalls hätte sie das Büro schleunigst verlassen müssen.
„Seit wann wisst ihr es?“
„Seit heute Morgen. Es lag eine Vermisstenanzeige vor. Die Kleidung, der Schmuck wie auch der Zeitpunkt passen genau. Eine Identifizierung des Leichnams möchte ich den Eltern allerdings ersparen. Ich werde die Kollegen von der Vermisstenabteilung bitten, dir eventuell vorhandene Röntgenbilder der Zähne zu besorgen. Ich denke, dies wird ausreichen, um die Identifizierung vorzunehmen. Außer der Kleidung und dem Armband haben wir ja keine persönlichen Gegenstände gefunden, die zur Identifizierung beitragen könnten.“
„Wann wurde sie zuletzt gesehen?“, fragte Bernades und zog eine breite Schublade an ihrem Schreibtisch auf. Die Mappe, die sie herausnahm und vor sich ablegte, war mit nur wenigen Blättern gefüllt.
„Sie hat sich am fünfzehnten Juli von ihren Eltern verabschiedet und ist mit einer Taxe zum Bahnhof gefahren. An ihrem Zielort ist sie aber nie angekommen. Da sich die Eltern keine Gedanken machten, wurde das Verschwinden erst nach ihrem Urlaub festgestellt. Aber selbst da warteten die Eltern noch einige Tage, bevor sie die Kollegen verständigten.“
Bernades schlug die Mappe auf und schaute auf das Blatt Papier, das jetzt vor ihr lag. „Das würde mit meinen Berechnungen übereinstimmen. Ich komme auch auf den Fünfzehnten.“
„Wenn wir jetzt noch die Taxe finden, die am Tatort war ...“
„Taxe?“, fragte Bernades.
Jutta nickte. Sie überlegte, ob sie Bernades über den Stand der Ermittlungen informieren sollte, und entschied sich dafür. Immerhin gehörte sie mit zum Team und lieferte vielleicht noch Ansatzpunkte, die Jutta bisher übersehen hatte. „Ja. Wir haben Reifenspuren gefunden, und an dem Tag, also an dem besagten Fünfzehnten, wurde eine Taxe an dem Gerätehaus gesehen. Wir haben auch auf diesem Werkzeug, wie immer es auch heißt, einen Teilabdruck gefunden. Er ist nicht gerade gut, aber er könnte hilfreich sein.“
Bernades schaute Jutta lange an, ohne etwas zu sagen.
„Was ist los?“, fragte Jutta nach einiger Zeit und überlegte, ob ihr etwas entgangen war.
„Ich weiß nicht ... das ist alles zu glatt. Mich stören auch diese speziellen Werkzeuge. Sie sind teuer und auffällig. Und noch etwas: Beide Morde wurden mit brutaler Gewalt ausgeübt. Es steht die Frage im Raum, ob die Täterprofile überhaupt passen.“
„Moment mal ...“ sagte Jutta und rümpfte die Nase, „... höre ich da irgendwie heraus, dass Francesco Sardan es vielleicht doch nicht war?“
Bernades schüttelte energisch den Kopf. „Nein, so meine ich das nicht. Mir ist bekannt, dass seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe waren und auch er kein Alibi hat.“
„Was meinst du dann?“
„Solche Mordfälle sind eigentlich komplizierter. Ihr löst sie in nur wenigen Tagen. Ihr findet Spuren, Beweise und dann die Täter. Es geht alles irgendwie zu glatt, mehr wollte ich damit nicht sagen.“ Bernades stand auf und ging zum Fenster, stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und schaute hinaus.
„Wollen wir etwas trinken gehen und einfach mal so an den beiden Fällen rumspinnen – Brainstorming?“, fragte Jutta in die Stille des Raumes hinein. Hätte Bernades nicht aus dem Fenster gesehen, hätte sie bemerkt, dass Jutta die Luft anhielt. Nach einer Weile drehte sie sich um und nickte. „Sehr gerne. Aber nur unter einer Bedingung: Wir reden nicht nur über die Morde.“

  (C) by Philipp Porter, Lützelbach