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Jochen Kraidler - Ammut - Der Clan

JOCHEN KRAIDLER

Ammut - Der Clan

Philipp Porter
JOCHEN KRAIDLER - Ammut - Der Clan

Kriminalroman


Jochen Kraidler - Ammut - Der Clan

Der Anruf kam gegen 22:30 Uhr. Jochen Kraidler hatte gerade die Nachrichten gesehen und sich über die aktuellen Geschehnisse in der Welt informiert, als seine Frau ihm mit ernstem Blick das Telefon entgegenhielt. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß.
„Kraidler“, sagte er nur und lauschte in den Hörer hinein. „Ja, ich kenne den Mann.“ Angespannt hörte er weiter zu. Dann nickte er: „Warten Sie, bis ich vor Ort bin.“
Kraidler schaute seine Frau mit einem entschuldigenden Blick an, zog die Schultern nach oben, gab ihr einen Kuss und ging. Er hatte keinen Dienst, er hatte keine direkte Order, aber dennoch konnte er nicht anders. Der junge Marokkaner hatte es schon nicht einfach gehabt, bis er nach Deutschland gekommen war, und nun saß er mit einem Bündel Dollarscheine und einem getöteten syrischen Asylanten in seinem Container und hoffte darauf, dass der Kommissar aus dem LKA ihm helfen würde. Vermutlich, so dachte Kraidler, hätte er nicht anders gehandelt. Er war für den jungen Mann so etwas wie die deutsche Gerechtigkeit, da er ihn bei seinem letzten Fall vor dem Ärgsten bewahrt hatte. Hätte er die Tatwaffe nicht zum LKA nach Kiel geschickt, säße der junge Marokkaner jetzt in einem Gefängnis und würde womöglich auf seine Abschiebung warten.

Kraidler parkte genau an der gleichen Stelle wie ein paar Tage zuvor. Das Gelände des Garten- und Friedhofsamtes war in orangefarbenes Licht getaucht, das die Straßenbeleuchtung über das gesamte Containerdorf und den Innenhof warf. Hier konnte keine Maus die Freifläche überqueren, ohne gesehen zu werden. Im Hintergrund standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei und das Blitzen der Blaulichter drückte dem Bild einen surrealen Stempel auf. Von seinen Kollegen, die ihn angefordert hatten, war niemand zu sehen. Vermutlich, so nahm Kraidler an, waren alle in einem der Container, in dem der Leichnam zu finden war. Langsam ging er über den Platz zu den Einsatzfahrzeugen und schaute sich dabei suchend um. Die beiden Kameras, die jeweils an einem hohen Mast in einer Ecke des Areals angebracht waren, hatte er die Tage zuvor nicht bemerkt. Auch wurde hinsichtlich der Ermittlungen nicht darauf hingewiesen. Kraidler ging zu einem der Masten und schaute nach oben. Die Kamera war neu. Dann blickte er zu dem Sockel des Mastes. Und das, was er sah, beantwortete ihm die Frage, weshalb niemand auf die beiden Kameras hingewiesen hatte. Der Erdaushub war frisch und der nicht benötigte Mörtel für den Bodenanker lag noch neben dem Mast. Die beiden Kameras wurden erst nach seinem letzten Einsatz montiert.

In dem Wohncontainer war die Situation angespannt, das konnte Kraidler regelrecht spüren, als er eintrat. Die anwesenden Kollegen standen an den Wänden verteilt und starrten stumm geradeaus. Zwei der Beamten waren dicht bei dem Marokkaner, eine Hand lag griffbereit auf der Dienstwaffe. Es wirkte so, als warteten sie nur darauf, dass der Festgenommene aus einem der Fenster springen und davonstürmen würde. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag ein Bündel Dollarscheine. Die orangefarbene Banderole sagte ihm auf den ersten Blick, dass es zehntausend US-Dollar sein mussten. Ein Mordopfer war nicht zu sehen.
„Wo ist der Tote?“, fragte Kraidler in den Raum hinein und ging zum Tisch. Er nahm das Bündel Scheine von der Längsseite auf. „SpuSi schon fertig?“
Ein Beamter trat heran und gab ihm ein Paar Handschuhe. „Sind noch bei einem anderen Fall. Kann etwas dauern. Nehmen Sie so lange die hier.“
Kraidler zog sich die Latexhandschuhe über und ließ danach die einzelnen Scheine des Bündels an seinem Daumen vorbeigleiten, damit er die Anzahl abschätzen konnte. Es waren zehntausend US-Dollar, das stand für ihn fest. Und auf den ersten Blick waren die Dollars echt; keine Blüten. Aber eine genaue Untersuchung würde routinemäßig nicht ausbleiben.
Kraidler wandte sich dem Marokkaner zu und hielt ihm die Dollars entgegen. Dieser hob nur die Schultern und verzog die Mundwinkel zu einem erzwungenen Lächeln.
„Macht ihm die Handschellen ab“, sagte Kraidler zu den beiden Beamten, die sich noch immer an ihrer Dienstwaffe festhielten. „Ich kenne ihn. Er wird nicht flüchten.“
„Ist gegen die Vorschriften“, gab einer der Beamten zurück und nun zog Kraidler die Mundwinkel nach oben.
„Wo ist die Leiche?“
Ein Kollege, der an der Wand stand, deutete auf den Flur hinaus. „Nebenan. Gleich der nächste Container.“ Kraidler warf beim Gehen dem Marokkaner noch einen Blick zu, der so viel sagen sollte, dass er noch ein wenig Geduld haben müsste. Denn eines stand für ihn bereits fest: Sollte der junge Mann der Mörder sein, wäre er sicherlich schon lange verschwunden gewesen. Er hätte ihn nicht mit einem Bündel Dollars auf dem Tisch und einem Leichnam einen Raum weiter holen lassen.

Der Tote lag auf dem Rücken und sein Hemd war mit Blut durchtränkt. Unter ihm, auf dem Linoleumboden, stand eine große Pfütze klebrigen Blutes und Kraidler benötigte keinen Gerichtsmediziner, um zu erkennen, dass das Opfer mit einem gezielten Messerstich in die Brust getötet wurde. „Todeszeitpunkt vor ungefähr zwei Stunden. Aber genau nach der Obduktion …“, murmelte er zu sich selbst und schaute sich dabei in dem Container weiter um. Es sah genauso aus wie in dem Raum nebenan. Gleiches Bett mit Bettwäsche, gleicher Schrank, gleicher Tisch, sogar die Lampen im Zimmer und die Tassen, die in einem kleinen Regal über einer Spüle standen, waren identisch. Der einzige Unterschied zu dem Wohncontainer eine Tür weiter bestand darin, dass hier eine Leiche in ihrem Blut lag.
„Holt mir mal den jungen Mann und nehmt ihm die Handschellen ab. Und dies ist keine Bitte!“, sagte Kraidler über seine Schultern hinweg Richtung Tür und schaute sich den Inhalt des Schrankes dabei an.

  (C) by Philipp Porter, Lützelbach